Kapitel 2
von Willow MossMeine Familie hat seit Generationen das Land des Bäcker-Anwesens gepachtet. Lord Lloyd, ein äußerst geiziger Grundherr, erlegte uns unerträglich hohe Abgaben auf. Die Bauern schufteten auf dem kargen Land, doch den Großteil der Ernte mussten sie an den Gutsherrn abgeben.
In der Generation meines Vaters, während der Kriegswirren, wurde das Leben noch härter. Mein Vater verließ die Heimat, als ich zwölf war, um in die Stadt zu ziehen – er kehrte nie zurück. Meine Mutter brachte vier Kinder zur Welt: zwei Schwestern, einen Bruder und mich. Der jüngste, Boal, war gerade ein Jahr alt. Wer sein Vater war, wusste wohl nur Gott.
Von Kindheit an lebte ich in bitterer Armut, oft hungrig und in Lumpen gekleidet. Damals sehnte ich mich nach dem Leben der Oberschicht und beneidete die gut gekleideten Diener im Bäcker-Anwesen. Als ich schließlich selbst als Kammerdiener dort anfing, glaubte ich naiv, ich hätte meinen erbärmlichen Stand hinter mir gelassen und gehöre nun zu den Bessergestellten. Doch die Realität holte mich schnell ein.
Als ich ins Dorf zurückkam, riefen die Leute: „Seht nur! Toker ist zurück!“ – „Der begabte Junge aus der Brandt-Familie, jetzt Diener im Haus des Lords! Sieh nur seine Kleidung, wie fein!“ – „Er sieht aus wie die Adligen, seine Perücke glänzt wie Silber!“ Doch zwischen den Bewunderungsrufen hörte ich auch: „Wieso darf er dort dienen? Mein Sohn wollte nur Stallknecht werden – und sie ließen ihn nicht einmal das!“
In meinen hohen Schuhen stapfte ich mühsam über das holprige Feldweg bis zu unserem Haus – einer windschiefen Holzhütte, umgeben von einem verrotteten Zaun. Auf dem Karren vor der Tür trocknete alte Wäsche, eine Henne pickte träge nach Würmern. Meine Mutter und Schwestern empfingen mich freudig. Die Kinder bestaunten das Brot, das ich mitbrachte, während meine Mutter sofort nach meinem Lohn verlangte.
Sie war eine korpulente Frau, einst als Schönheit bekannt. Doch seit Vaters Verschwinden verfiel sie dem Alkohol – lieber hungerte sie, als auf ihren Schnaps zu verzichten. In meinem früheren Leben verachtete ich sie dafür, dass sie nur mein Geld wollte. Sie behauptete, es sei für Essen für die Geschwister – doch alles versoff sie.
Mein Lohn war ohnehin knapp, und da ich teure Kleidung und Accessoires kaufen musste, gab ich ihr bald nichts mehr. Schließlich brach ich den Kontakt ab. Jahre später wusste niemand mehr, wohin sie verschwunden waren.
Meine Mutter sah mich an und plapperte unentwegt: „Damals, als du sagtest, du wolltest im Herrenhaus als Diener arbeiten, dachte ich, du machst Witze. Wer hätte gedacht, dass du es tatsächlich zu etwas bringen würdest! Ich bin so stolz auf dich, das ganze Dorf beneidet mich. Der alte Mann am Dorfeingang hat mich schon mehrmals aufgesucht – er möchte dir seine Tochter zur Frau geben. Aber ich würde niemals zustimmen, dieses Mädchen sieht aus wie eine Ziege!“
Ich gab meiner Mutter meinen gesamten Lohn und ermahnte sie: „Kauf dir davon Essen.“ Strahlend vor Freude nahm sie das Geld mit beiden Händen entgegen und versteckte es sorgfältig in ihrer Schürze. Als sie das Brot sah, das ich mitgebracht hatte, sagte sie: „Nächstes Mal brauchst du kein Brot mitzubringen, gib mir einfach das Geld. Wir backen unser eigenes Brot.“
Meine Schwester Jasmine, bereits 15 Jahre alt, glich einer frisch erblühten Blume – lebhaft und voller Energie. Sie strich über meinen Mantel und fragte: „Aus welchem Stoff ist das? Er fühlt sich so weich an, bestimmt ist er sehr warm.“ Ich erklärte ihr, dass diese schwarze Livree mit den weißen Streifen aus spezieller Wolle gefertigt war, einheitlich für alle Diener des Herrenhauses. Jeder bekam nur eines – mein wertvollster Besitz.
Die kleine Grace bombardierte mich mit Fragen: „Erzähl uns vom Herrenhaus! Wie sieht der Viscount aus? Ist die Viscountess schön? Tragen sie Kleider aus Seide?“ Lächelnd berichtete ich von meinem Leben im Herrenhaus, während sie mit großen Augen andächtig lauschten.
Jasmine stieß immer wieder begeisterte Ausrufe aus: „Das ist ja wunderbar! Wie beneidenswert! Kann ich nicht auch als Zofe dort arbeiten? Frag doch den Herrn Hülse für mich!“ Ich schüttelte den Kopf: „Als Zofe wohl nicht. Die Mädchen dort sind speziell ausgebildet, Dorfmädchen nehmen sie nicht.“ Verärgert erwiderte sie: „Aber du bist doch auch vom Land! Warum haben sie dich genommen?“ Ich lachte: „Falls in der Küche eine Stelle frei wird, frage ich nach.“ Doch Jasmine war entschlossen: „Köchin will ich nicht werden! Ich will die Zofe der jungen Damen sein! Ihre prächtigen Seidenkleider berühren, ihren Schmuck bewundern…“
Da ich nur einen halben Tag frei hatte, musste ich bald aufbrechen. In der warmen Nachmittagssonne eilte ich zurück und erreichte das Bäcker-Anwesen vor drei Uhr.
Das Bäcker-Herrenhaus war gewaltig. Aus der Ferne wirkte das blassgelbe Schloss inmitten der weiten Ebene wie ein Stück Käse. Doch je näher man kam, desto imposanter und majestätischer erschien es. Das Fundament war quadratisch, das Gebäude selbst dreistöckig mit hunderten Räumen, unzähligen identischen Fluren und Treppen. Als ich neu war, verirrte ich mich ständig – es dauerte lange, bis ich mich zurechtfand.
Der Burgherr ist Lord Lloyd, der mit seiner Gemahlin vier Kinder hat: den ältesten Sohn Belon und drei bildschöne Töchter. Belon ist seit Jahren mit Vivian, der Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns, verheiratet. Trotz ihres Reichtums blieb ihnen ein Kind versagt. Von den drei jungen Damen ist die älteste, Cheryl, bereits verheiratet, während die zweite und dritte Tochter noch unvermählt sind.
Früher verlief das Leben ruhig und ereignislos. Wie alle Adligen genossen sie einen luxuriösen Lebensstil, umgeben von Gelächter und Freude. Jeden Tag schmausten sie köstliche Speisen und edle Weine, gingen auf die Jagd oder besuchten Bälle – ein sorgloses Dasein. Doch all das endete abrupt an diesem Tag…
Im Moment meines Eintritts in die Burg wusste ich, dass sich alles wiederholen würde, ohne Überraschung. Die Diener wirkten bedrückt, ihre Schritte hastig. Rhodes und die Magd Lizbeth flüsterten mir zu: „Etwas Schreckliches ist geschehen – der junge Lord Lloyd ist vom Pferd gestürzt und hat sich das Genick gebrochen…“
Diese Nacht war die Burg still wie ein Grab, nur hin und wieder unterbrochen von gedämpftem Schluchzen. Die Herrschaften waren von Schmerz überwältigt, die Dienerschaft blieb die ganze Nacht wach, stets bereit. Lizbeth, eine hübsche Dienstmagd mit feuerrotem Haar und lebhaftem Temperament, nähte im flackernden Kerzenschein und seufzte leise: „Irene weint unaufhörlich. Ich wünschte, sie könnte Trost finden.“
Rhodes lachte spöttisch: „Natürlich weint sie. Erst letzte Woche verlor sie ihre Unschuld in Lord Lloyds Bett – und jetzt, ohne auch nur einen Pfennig erhalten zu haben, ist der junge Lord tot. Wie bedauernswert.“ Lizbeth funkelte ihn wütend an: „Du bist wirklich ein widerlicher Kerl.“
»Ob es mir gefällt oder nicht, ist nicht deine Sorge. Jetzt gibt es Wichtigeres zu bedenken«, sagte Rhodes mit funkelnden Augen. »Lord Lloyd ist tot – wer wird das Erbe des Viscount-Titels antreten? All diese vornehmen Leute, die sich jahrelang vor Lord Lloyd verbeugt haben, haben umsonst gekrochen. Und welche der Kammerzofen ist nicht in seinem Bett gewesen? Die werden jetzt wohl alle heulend in ihren Kammern sitzen.«
»Stell nicht alle so abscheulich dar«, fuhr Lizbeth ihn unwirsch an.
»Ich sage nur die Wahrheit. Hatte der Viscount Brüder?«, bohrte Rhodes weiter.
»Wer weiß das schon? Vermutlich schon«, antwortete Lizbeth.
»Ja«, warf ich ein. »Seine Lordschaft hatte einen Bruder, einen Baron, aber der ist seit vielen Jahren tot.«
»Woher weißt du das?«, fragte Rhodes überrascht. »Hat der verstorbene Baron Nachkommen hinterlassen?«
Ich betrachtete das flackernde Kerzenlicht und nickte leicht. »Ja. Er hat einen Sohn, der bereits den Barontitel geerbt hat.«
»Wie alt ist er? Ist er verheiratet? Hat er Kinder? Und wie ist sein Charakter?«, feuerte Rhodes eine Frage nach der anderen ab.
»Wie soll Toker das alles wissen? Wenn Seine Lordschaft auf Gut Bäcker eintrifft, wird sich alles klären«, sagte Lizbeth abschätzig.
Die Kerze knisterte leise, ein feines Prasseln. Ich starrte in die Flamme und versank in Gedanken. »Ja, wenn er kommt, wird sich alles klären.«
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